Wie Golem vor einiger Zeit berichtete, gibt es Probleme beim Rückbau des Kugelhaufenreaktors in Hamm. Der THTR-300 sollte die Zukunft der deutschen Energieversorgung sichern – ein „sicherer“ Atomreaktor, betrieben mit Thorium statt nur mit Uran. Doch statt einer Revolution endete das Projekt in einem technischen und finanziellen Fiasko.
In diesem Artikel werfen wir einen Blick unter die Haube dieses einzigartigen Reaktors, analysieren die technischen Probleme und zeichnen seinen kurzen Lebensweg nach.
Die Technik: Wie funktionierte der Thorium-Reaktor?
Der THTR-300 war kein gewöhnlicher Leichtwasserreaktor, wie wir sie von den meisten Kernkraftwerken kennen. Er war ein Thorium-Hochtemperaturreaktor der Bauart Kugelhaufenreaktor. Das klingt kompliziert, lässt sich aber auf drei faszinierende technische Prinzipien herunterbrechen:
1. Der Brennstoff: Tennisbälle statt Stäbe
Statt in langen Brennstäben befand sich der Kernbrennstoff in ca. 675.000 kugelförmigen Brennelementen (etwa die Größe von Tennisbällen).
- Inhalt: Jede Kugel enthielt winzige Partikel (Coated Particles) aus hochangereichertem Uran-235 und Thorium-232. Das Thorium selbst ist nicht spaltbar, wird aber im Reaktor durch Neutronenbeschuss in spaltbares Uran-233 umgewandelt (Brutprozess).
- Hülle: Die Kugeln bestanden hauptsächlich aus Graphit, der als Moderator diente und extrem hitzebeständig war.
2. Das „Fließband“-Prinzip
Diese Kugeln wurden oben in den Reaktorbehälter geschüttet und wanderten langsam durch die Schwerkraft nach unten („Kugelhaufen“). Unten wurden sie entnommen, auf ihren Abbrand geprüft und – wenn noch genug Energie vorhanden war – oben wieder eingefüllt. Das erlaubte einen kontinuierlichen Betrieb ohne Abschaltung für den Brennelementwechsel.
3. Helium als Kühlmittel
Zur Kühlung wurde kein Wasser, sondern das Edelgas Helium verwendet.
- Vorteil: Helium wird nicht radioaktiv und kann extrem hohe Temperaturen transportieren. Helium enthält sehr geringe Mengen an Helium 3. Daraus kann radioaktives Tritium entstehen. Das ist aber so wenig, dass es zu vernachlässigen ist.
- Effizienz: Das Helium erhitzte sich auf bis zu 750 °C. Diese Hitze wurde genutzt, um Dampf zu erzeugen, der dann eine Turbine antrieb. Der Wirkungsgrad war dadurch deutlich höher als bei herkömmlichen Reaktoren.
Chronologie: Ein kurzes Leben
Die Geschichte des THTR-300 ist geprägt von massiven Verzögerungen beim Bau und einer extrem kurzen Betriebszeit.
- 1971: Baubeginn. Die ursprüngliche Planung sah eine Bauzeit von 5 Jahren vor.
- 1983: Erste Kritikalität (der Reaktor läuft an) – bereits mit massiver Verspätung.
- 1985: Erste Stromeinspeisung ins Netz.
- 1987: Der Reaktor wird nach diversen Störfällen im Vorjahr nur noch sporadisch betrieben.
- 1989: Endgültige Entscheidung zur Stilllegung. Nach nur 423 Tagen Volllastbetrieb war Schluss.
- Heute: Die Anlage befindet sich im „Sicheren Einschluss“. Der Rückbau ist extrem teuer und technisch komplex.
Was lief schief? Die Probleme und Störfälle
Auf dem Papier war das Konzept genial und galt als inhärent sicher (da der Graphit eine Kernschmelze physikalisch fast unmöglich machte). In der Praxis war der Reaktor jedoch eine Katastrophe.
Das Bruch-Problem
Die graphitummantelten Kugeln waren mechanisch nicht so stabil wie erhofft. Durch den Druck im „Kugelhaufen“ und das ständige Umwälzen zerbrachen viele Kugeln. Dies führte zu einer massiven Staubentwicklung im Reaktor, die radioaktiv kontaminiert war und Wartungsarbeiten extrem erschwerte.
Der Störfall vom Mai 1986
Kurz nach der Katastrophe von Tschernobyl (April 1986) geriet auch der THTR in die Schlagzeilen.
- Eine der Kugelschleusen hatte sich verklemmt (vermutlich durch Bruchstaub).
- Um die Blockade zu lösen, versuchten die Betreiber, die Kugeln mit erhöhtem Gasdruck „freizublasen“.
- Dabei entwich radioaktives Aerosol (Staub) in die Umgebung.
- Der Skandal: Die Betreiber meldeten den Vorfall zunächst nicht und versuchten, die erhöhte Radioaktivität in der Umgebung dem Tschernobyl-Fallout zuzuschreiben. Als die Wahrheit ans Licht kam, war das Vertrauen der Öffentlichkeit endgültig zerstört.
Finanzielle Schieflage
Die Baukosten explodierten von geplanten 300 Millionen DM auf über 4 Milliarden DM. Da der Reaktor zudem ständig wegen Reparaturen stillstand, war ein wirtschaftlicher Betrieb unmöglich.
Fazit: Ein gescheitertes Erbe
Der THTR-300 in Hamm sollte beweisen, dass Atomkraft auch „anders“ geht – sicherer und effizienter durch Thorium und Hochtemperatur-Technik. Technisch scheiterte er an der mechanischen Komplexität des Kugelhaufens und der Materialbelastung. Politisch scheiterte er an Intransparenz und den enormen Kosten.
Er bleibt eine der teuersten Investitionsruinen der deutschen Industriegeschichte und ein Mahnmal für die Risiken, die entstehen, wenn Theorie auf harte Praxis trifft.
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