Der Unfall im Experimental Breeder Reactor I

In der Frühzeit der Kernenergie, als Wissenschaftler die Möglichkeiten dieser neuen Technologie erkundeten, gab es immer wieder bahnbrechende Experimente – und manchmal leider auch unerwartete Unfälle. Eines dieser bemerkenswerten Ereignisse war der Zwischenfall im Experimental Breeder Reactor I (EBR-I) im Jahr 1955. Dieser Reaktor war nicht nur der erste, der Strom aus Kernspaltung erzeugte, sondern auch der erste Brutreaktor der Welt.

Was war der EBR-I?

Der EBR-I, entwickelt und betrieben vom Argonne National Laboratory, wurde im National Reactor Testing Station (heute Idaho National Laboratory) in der Nähe von Arco, Idaho, errichtet. Sein Hauptziel war es, die Machbarkeit des Brüterprinzips zu demonstrieren – also die Fähigkeit eines Reaktors, mehr spaltbares Material zu erzeugen als er verbraucht – und gleichzeitig Elektrizität zu erzeugen.

Das besondere Kühlmittel: NaK

Eine Besonderheit des EBR-I war das verwendete Kühlmittel: eine eutektische Legierung aus Natrium und Kalium, bekannt als NaK. Diese Legierung besteht typischerweise aus etwa 78 % Kalium und 22 % Natrium und ist bei Raumtemperatur flüssig und hat eine Siedetemperatur von 785°C. Reines Natrium hat einen deutlich höheren Schmelzpunkt, daher bot NaK den Vorteil, dass es einfacher zu handhaben war und der Reaktor leichter gestartet werden konnte, ohne dass das Kühlmittel erst aufwendig verflüssigt werden musste.

Der Einsatz von NaK war für einen schnellen Brutreaktor wie den EBR-I entscheidend. Solche Reaktoren benötigen ein Kühlmittel, das Wärme effizient abführt, aber gleichzeitig die schnellen Neutronen, die für den Brutprozess notwendig sind, nicht zu stark verlangsamt (moderiert). Wasser, ein gängiges Kühlmittel in anderen Reaktortypen, würde die Neutronen zu stark abbremsen. Flüssiges Natrium und eben NaK besitzen hervorragende Wärmeübertragungseigenschaften und moderieren Neutronen nur in geringem Maße, was sie ideal für schnelle Reaktoren macht.

Das Experiment, das außer Kontrolle geriet

Am 29. November 1955 führten Wissenschaftler am EBR-I eine Reihe von Experimenten durch, um die inhärenten Sicherheitseigenschaften des Reaktors zu untersuchen. Ein besonderer Fokus lag dabei auf dem Temperaturkoeffizienten der Reaktivität. Dieser Koeffizient beschreibt, wie sich die Reaktivität des Reaktors (und damit seine Leistung) mit Änderungen der Temperatur verändert. Das Team wollte herausfinden, wie sich dieser Koeffizient unter verschiedenen Kühlmittelströmungsbedingungen verhält.

Was die Wissenschaftler damals noch nicht vollständig verstanden, war das Ausmaß eines positiven Temperaturkoeffizienten in bestimmten Reaktorkonfigurationen. Bei diesem Experiment kam es zu einer schnellen Erhöhung der Reaktorleistung. Diese Steigerung führte zu einer Erhitzung des Reaktorkerns, was wiederum die Reaktivität weiter erhöhte – ein sich selbst verstärkender Effekt.

Die partielle Kernschmelze

Die Leistung des EBR-I stieg so rasant an, dass die automatischen Sicherheitssysteme nicht schnell genug reagieren konnten. Innerhalb kurzer Zeit kam es zu einer partiellen Kernschmelze. Das bedeutet, dass Teile des Brennstoffs im Reaktorkern schmolzen. Dabei verdampfte ein Teil des Kühlmittels NaK. Glücklicherweise waren die Sicherheitsvorkehrungen des EBR-I ausreichend, um eine größere Katastrophe zu verhindern. Dadurch, dass ein Teil des Brennstoffs schmolz und in den Röhren des Kühlsystems abtransportiert wurde, unterschritt der Reaktor die Kritikalität und schaltete sich so selbst ab.

Die Folgen und die gewonnenen Erkenntnisse

Obwohl der Unfall zu einer Beschädigung des Reaktorkerns führte, gab es keine Freisetzung von radioaktiven Materialien außerhalb des Reaktorgebäudes. Auch wurde niemand bei dem Vorfall verletzt.

Der Unfall im EBR-I war ein Weckruf. Er zeigte deutlich, wie wichtig es ist, die komplexen Rückkopplungsmechanismen in Kernreaktoren, insbesondere den Temperaturkoeffizienten der Reaktivität, genau zu verstehen. Die Analyse des Unfalls ergab, dass die positive Rückkopplung hauptsächlich auf die thermische Ausdehnung und das Verbiegen (Bowing) der metallischen Brennstäbe zurückzuführen war, was die Reaktivität erhöhte.

Der EBR-I wurde nach dem Unfall repariert und diente später noch für weitere Experimente, bevor er schließlich stillgelegt wurde. Heute ist er ein historisches Denkmal, das an die Pionierzeit der Kernenergie und die wichtigen Lektionen erinnert, die wir auf diesem Weg gelernt haben.

Der Unfall wurde in die Stufe 4 der INES-Skala eingeordnet.

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