Vielleicht könnt Ihr euch noch erinnern als im Herbst 2027 in den Nachrichten und sogar im Wetterbericht von einer rätselhafen radioaktiven Ruthenium-Wolke die Rede war. Dies unsichtbare Wolke breitete sich über weite Teile Europas aus. Niemand wusste, wo die Wolke her kam. Ihre einzige Spur war ein einzelnes, künstliches Radionuklid namens Ruthenium-106, das von Sensoren im gesamten Kontinent nachgewiesen wurde. Während die gemessenen Konzentrationen für die europäische Bevölkerung keine Gesundheitsgefahr darstellten, löste die Suche nach dem Ursprung der Wolke eine beispiellose internationale Detektivarbeit aus. Die Beweise, die dabei zusammengetragen wurden, legten die Spur zu einer historisch vorbelasteten Nuklearanlage in Russland und enthüllten eine beunruhigende Kette von Dementis und Widersprüchen.
Eine unheimliche Entdeckung in der Luft
Die Stille vor dem Sturm endete in der letzten Septemberwoche 2017. Völlig unerwartet begannen europäische Labore, eine erhöhte Konzentration von Radioaktivität in der Luft zu messen. Die ersten, die einen Anstieg verzeichneten, waren Messstationen in Russland selbst. Bereits am 23. September 2017 wurden in Kyschtym, im südlichen Ural, erhöhte Werte von radioaktivem Niederschlag festgestellt, gefolgt von weiteren Beobachtungen am 25. September in Argayash und am 26. September in Bugulma und anderen nahegelegenen Orten. Die Öffentlichkeit erfuhr davon allerdings erst Wochen später.
Für die europäischen Nationen begannen die Alarmierungen am 25. September in der Schweiz, wo das Bundesamt für Gesundheit einen Anstieg radioaktiver Partikel meldete. Nur zwei Tage später informierte die Griechische Atomenergiekommission über erhöhte Strahlungswerte in der Atmosphäre Athens. Im Laufe der folgenden Tage wurden weitere Funde in Italien, der Tschechischen Republik, Österreich, Polen, Schweden, Finnland, Slowenien und Deutschland gemeldet. Die Messungen erfassten jedoch fast ausschließlich ein einziges Radionuklid: Ruthenium-106, oder kurz Ru-106.
Dieses Fehlen jeglicher anderer typischer Spaltprodukte, wie sie bei einem Reaktorunfall freigesetzt werden, war für Experten der erste entscheidende Hinweis. Ein Unfall in einem Kernreaktor hätte ein breites Spektrum an Radionukliden, etwa Isotope von Cäsium, Strontium oder Jod, in die Atmosphäre gebracht. Da die Wolke aber aus einem einzigen Element bestand, war klar, dass der Ursprung in einem technologischen Prozess liegen musste, der einzelne Isotope von einander trennt, beispielsweise in einer Wiederaufbereitungsanlage.
Ruthenium-106 ist ein Radionuklid künstlichen Ursprungs und kommt nicht in der Natur vor. Es entsteht als Spaltprodukt bei der Kernspaltung von Uran in Kernreaktoren. Mit einer Halbwertszeit von 371,8 Tagen wandelt es sich in Rhodium-106 um, das selbst eine sehr kurze Halbwertszeit von 30 Sekunden hat. Obwohl Ru-106 selbst ein reiner Betastrahler ist, ist es wegen des Zerfallsprodukts Rhodium-106, das Gammastrahlung emittiert, leicht durch Gammastrahlenmessungen nachweisbar.
Die spezifische Zusammensetzung der Wolke, die nur aus Ru-106 bestand, war daher kein Zufall. Sie war der erste entscheidende Hinweis auf einen sehr spezifischen Ursprung. Die Chronologie der Entdeckung lieferte den zweiten Beweis für den Ursprungsort. Die frühesten Messungen erhöhter radioaktiver Ablagerungen stammten von russischen Stationen im südlichen Ural und fanden am 23. September in Kyschtym und am 25. September in Argayash statt. Dies geschah vor den ersten öffentlichen Berichten aus europäischen Ländern, was die spätere offizielle russische Aussage, die Freisetzung stamme nicht aus Russland, in Frage stellt.
Die folgende Tabelle veranschaulicht die zeitliche Diskrepanz zwischen den ersten wissenschaftlichen Nachweisen und den offiziellen Reaktionen.
| Zeitpunkt | Ereignis |
| 23. September 2017 | Erste Nachweise von Ru-106 in russischen Messstationen in Kyschtym |
| 25. September 2017 | Höhepunkt des Austritts am Ursprungsort, erste Nachweise in der Schweiz und in Argayash |
| 27. September – 1. Oktober 2017 | Ru-106-Wolke breitet sich über weite Teile Europas aus |
| 2. Oktober 2017 | Italienische Labore alarmieren das europäische Netzwerk |
| 9. Oktober 2017 | Die regionalen Behörden in Tscheljabinsk schließen eine Freisetzung aus |
| 21. November 2017 | Der russische Wetterdienst Rosgidromet bestätigt „extrem hohe“ Ru-106-Werte im südlichen Ural |
| 21. November 2017 | Rosatom leugnet weiterhin jede Beteiligung von Majak |
| Dezember 2017 | Ein Majak-Manager gibt zu, dass Ru-106 routinemäßig freigesetzt wird |
| August 2019 | Veröffentlichung der PNAS-Studie, die den Unfall wissenschaftlich mit Majak in Verbindung bringt |
Die wissenschaftliche Detektivarbeit und die Spur in den Ural
Ungeachtet der geringen Gesundheitsgefahr für die europäische Bevölkerung mobilisierte die Wissenschaftsgemeinschaft schnell. Ein internationales Expertenteam, bestehend aus über 70 Forschern aus 32 Ländern, begann, über 1300 Messwerte von 176 Messstationen auszuwerten. Diese beispiellose wissenschaftliche Kollaboration nutzte moderne Methoden, um den Ursprung der Wolke einzugrenzen. Unabhängige Analysen des französischen Instituts für Strahlenschutz und nukleare Sicherheit (IRSN) und des deutschen Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) nutzten Wetterdaten, um die Ausbreitung der Wolke rückwirkend zu modellieren.
Ihre Ausbreitungsmodelle kamen zu dem Schluss, dass die Wolke mit großer Wahrscheinlichkeit im südlichen Ural ihren Ursprung hatte, einer Region zwischen der Wolga und dem Ural. Ein Austritt aus Westeuropa wurde von diesen Modellen als unwahrscheinlich ausgeschlossen. Die Analyse des Verhältnisses von Ru-106 zu Ruthenium-103 gab Aufschluss über das Alter des nuklearen Materials und deutete auf „frische“ abgebrannte Brennstäbe hin, was den Verdacht auf eine Wiederaufbereitungsanlage erhärtete. Die Verbindung des spezifischen Isotops mit einer geografischen Region war der entscheidende Durchbruch der Untersuchungen.
In dem in Frage kommenden Gebiet gibt es nur eine einzige nukleare Anlage, die als Quelle eines solchen Vorfalls in Frage kommt: die Atomanlage Majak. Die Anlage ist für ihre katastrophalen Unfälle bekannt. Bereits zwischen 1949 und 1951 wurden atomare Abfälle aus der Anlage direkt in das Tetscha-Flusssystem entsorgt, was zu massiven Strahlungsschäden bei der lokalen Bevölkerung führte. Im Jahr 1957 explodierte einer der Abfalltanks in der Anlage. Diese als Kyschtym Katastrophe bekannte Explosion hinterließ eine radioaktive Spur von über 20.000 km², machte Tausende Menschen obdachlos und gilt bis heute als einer der am stärksten kontaminierten Orte der Erde.
Die wahrscheinlichste Theorie verknüpft den Austritt von Ruthenium-106 aus dem Jahr 2017 mit einem technologischen Prozess in Majak. Die Anlage, die in der Vergangenheit Plutonium für das sowjetische Atomwaffenprogramm herstellte, wird heute vor allem zur Wiederaufbereitung von abgebrannten Kernbrennstäben genutzt. Bei diesem Prozess kann gasförmiges Rutheniumtetroxid entstehen. Dieses kann leicht entweichen und erklärt, wie das Radioisotop ohne weitere Spaltprodukte in die Atmosphäre gelangte. Die spezifische Signatur der Wolke passte perfekt zu einem Leck, das während der Aufbereitung oder Trennung von nuklearem Material entstand.
Eine besonders plausible Hypothese verknüpft den Austritt mit dem Versuch, eine sehr starke Cerium-144 Quelle für das europäische Borexino Experiment herzustellen. Dieses wissenschaftliche Projekt am Gran Sasso Labor in Italien hatte einen russischen Hersteller mit der Produktion einer radioaktiven Quelle beauftragt, die Cerium-144 enthalten sollte, um die Existenz steriler Neutrinos zu überprüfen. Ru-106 ist ein gängiges Nebenprodukt bei der Aufbereitung von Kernbrennstäben, aus denen Cerium-144 isoliert wird. Ein E-Mail-Leak des Borexino Projekts, der nach dem Vorfall bekannt wurde, sprach von „unerwarteten Problemen“ während des Reinigungsprozesses in Majak. Diese konkrete Verbindung erklärt, warum nur Ru-106 freigesetzt wurde und ist die stärkste wissenschaftliche Erklärung, die die offiziellen Dementis Russlands widerlegt.
Eine Mauer des Schweigens
Die erste offizielle Reaktion aus Russland auf die erhöhten Strahlungswerte in Europa war eine entschiedene Leugnung. Mehr als einen Monat lang, nach den ersten Messungen in Europa, bestritten Rosatom, der russische Staatskonzern für Atomenergie, und die regionalen Behörden in Tscheljabinsk, dass ein Zwischenfall stattgefunden hatte. Rosatom behauptete zunächst, seit vielen Jahren keine Ruthenium-106-Quellen mehr produziert zu haben und es habe in keiner seiner Anlagen einen Unfall gegeben.
Diese Position hielt bis zum 21. November 2017. An diesem Tag bestätigte der russische Wetterdienst Roshydromet, dass in der Region im südlichen Ural „extrem hohe“ Ru-106-Konzentrationen gemessen wurden. Am Standort Argayash, nur etwa 30 km von Majak entfernt, lagen die Werte dem Bericht zufolge 986-mal über dem Normalwert. Ein separater Bericht, der kurz darauf veröffentlicht wurde, widersprach dieser Aussage jedoch. Er behauptete, es seien keine „extrem hohen“ Konzentrationen nachgewiesen worden und die gemessenen Werte seien „Hunderttausende Male niedriger“ als die zulässigen Höchstwerte.
Trotz der eigenen Messdaten, die eindeutig einen massiven Anstieg an Radioaktivität in der Nähe von Majak belegten, behauptete Rosatom weiterhin, das Leck stamme nicht aus einer seiner Anlagen. Rosatom versuchte auch, die gemessenen Werte als „geringer“ als die in Europa gemessenen darzustellen. Diese Argumentation ist jedoch unplausibel. Die Konzentrationen sind am Ursprungsort eines Lecks immer am höchsten und werden auf dem Weg durch die Atmosphäre stark verdünnt. Daher müssen die freigesetzten Werte in Russland massiv gewesen sein. Die widersprüchlichen Aussagen der russischen Behörden zeigen einen Mangel an Koordination und den Versuch, die Kontrolle über die Erzählung zu behalten.
Der Umgang mit dem Ru-106-Austritt erinnert stark an die anfängliche Vertuschung der Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986. In beiden Fällen versuchte die Regierung, den Vorfall geheim zu halten, bis internationale Messungen und Daten die Vertuschung unmöglich machten. Dieser Trend zur Vertuschung legt ein anhaltendes, systematisches Problem mit der Transparenz im russischen Atomsektor nahe. Die Tatsache, dass die russischen Mitglieder der internationalen Untersuchungskommission von den Schlussfolgerungen ihrer Kollegen abwichen, zeigt eine politische und keine wissenschaftliche Uneinigkeit.
Die wahre Gefahr war die Geheimhaltung
Unabhängige Experten, darunter das IRSN und das deutsche BfS, bestätigten, dass die in Europa gemessenen Konzentrationen von Ruthenium-106 keine unmittelbare Gesundheitsgefährdung darstellten. Die Dosis, der die Bevölkerung durch Inhalation ausgesetzt war, war im Mikro-Sievert-Bereich und somit vernachlässigbar. Die französische Atomaufsichtsbehörde ASN sah keine Notwendigkeit, systematische Kontrollen von Lebensmitteln aus dem südlichen Ural einzuführen. Die geringe radiologische Dosis in Europa darf jedoch nicht die Schwere des Vorfalls verschleiern. Wäre die Freisetzung größer gewesen, hätte die Informationslücke verheerende Folgen haben können. Der eigentliche Schaden liegt im Vertrauensverlust.
Die größte Ungewissheit besteht bezüglich der tatsächlichen Dosen und potenziellen Gefahren für die Bevölkerung in der Nähe von Majak. Die Anlage befindet sich in der „geschlossenen Stadt“ Osjorsk, die Nicht-Einwohnern ohne besondere Genehmigung den Zutritt verwehrt. Diese Abschottung, in Verbindung mit der Behinderung von Umweltorganisationen, macht eine unabhängige Überprüfung unmöglich. Die Verzögerung der russischen Behörden bei der Veröffentlichung der eigenen Messdaten hat die Chance auf eine vollständige Untersuchung vor Ort und die Sammlung von entscheidenden Beweisen vereitelt. Ein Satellitenfoto, das ein beschädigtes Dach an einem Gebäude in Majak kurz nach dem Vorfall zeigt, liefert einen weiteren Hinweis auf einen physischen Unfall.
Der Vorfall unterstreicht die Schwachstellen in den internationalen Mechanismen zur nuklearen Sicherheit. Organisationen wie die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) können nur Daten sammeln und Empfehlungen aussprechen. Sie sind auf die Kooperation der Mitgliedsstaaten angewiesen. Ohne eine formelle Meldung eines Unfalls durch das Herkunftsland kann die IAEA keine verbindlichen Schlussfolgerungen ziehen. Die mangelnde Bereitschaft zur Zusammenarbeit gefährdet das gesamte internationale System der nuklearen Sicherheit und Transparenz.
Die folgende Tabelle dient zur kritischen Einordnung des Ruthenium-106-Austritts im Vergleich zu den größten Katastrophen in der Geschichte der zivilen Atomwirtschaft.
| Ereignis | Ruthenium-106 Austritt Majak 2017 | Kyschtym Katastrophe 1957 | Tschernobyl 1986 | Fukushima 2011 |
| Freigesetzte Aktivität (Schätzung) | 250-400 Terabecquerel (TBq) | ca. 74 Petabecquerel (PBq) | 5-12 Exabecquerel (EBq) | ca. 520 Petabecquerel (PBq) |
| INES-Klassifikation | Stufe 5 (vermutet) | Stufe 6 | Stufe 7 | Stufe 7 |
| Betroffene Radioisotope | Hauptsächlich Ruthenium-106 | Mehrere Spaltprodukte, inklusive Strontium-90, Cäsium-137 | Mehrere Spaltprodukte, inkl. Jod, Cäsium, Plutonium | Mehrere Spaltprodukte, inkl. Jod, Cäsium |
| Gesundheitsrisiko für Europa | Sehr gering, keine Maßnahmen erforderlich | Nicht zutreffend | Hoch, weitreichende Gebiete kontaminiert | Hoch, weitreichende Gebiete kontaminiert |
Fazit
Der Austritt von Ruthenium-106 war kein globaler Super-GAU, sondern ein bedeutender, lokalisierter Nuklearunfall. Der Vorfall stellt eine schwere Lektion in Sachen Transparenz dar. Die wissenschaftlichen Belege zeigen eindeutig auf die Atomanlage Majak als Ursprungsort und widerlegen die offiziellen Dementis Russlands.
Der Fall des Ruthenium-106 zeigt, dass nukleare Sicherheit über die bloße Einhaltung technischer Standards hinausgeht. Sie erfordert eine offene und ehrliche Kommunikation über Fehler und Mängel. Die Politik der Vertuschung und Leugnung, die die russischen Behörden an den Tag legten, gefährdet nicht nur die Anwohner in der Region, sondern auch die gesamte globale nukleare Sicherheit. Bis heute hat Russland den Unfall nicht offiziell bestätigt.
Hinterlasse einen Kommentar