In der Geschichte der Kernforschung gibt es Momente, die uns auf tragische Weise die immensen Kräfte und potenziellen Gefahren dieser Wissenschaft vor Augen führen. Einer dieser Momente ereignete sich im August 1945 im geheimen Labor von Los Alamos, inmitten des Manhattan-Projekts zur Entwicklung der ersten Atomwaffen. Die Hauptperson in dieser Geschichte ist der junge Physiker Harry Daghlian.
Wer war Harry Daghlian?
Harry Daghlian war ein talentierter amerikanischer Physiker, der maßgeblich am Manhattan-Projekt beteiligt war. Er war Teil eines Teams, das Experimente durchführte, um die kritische Masse von spaltbarem Material zu bestimmen – die Mindestmenge, die für eine selbsttragende nukleare Kettenreaktion erforderlich ist.
Das riskante Experiment
Am Abend des 21. August 1945 führte Daghlian allein in einem Labor ein Experiment mit einem Kern aus Plutonium durch. Dieser Kern, der später als „Demon Core“ bekannt wurde, war ca. 6 kg schwer. Daghlian versuchte, diesen Plutoniumkern in einen Zustand zu bringen, der so nah wie möglich an der Kritikalität lag, ohne ihn jedoch zu überschreiten.
Seine Methode war riskant: Er stapelte Blöcke aus Wolframcarbid um den Plutoniumkern. Wolframcarbid reflektiert Neutronen sehr gut und würde so die Anzahl der Neutronen, die auf den Plutoniumkern zurückprallen, erhöhen und ihn der Kritikalität näherbringen. Das Ziel war es, genau die Menge an reflektierendem Material zu finden, bei der die Kettenreaktion gerade noch nicht einsetzte.
Der fatale Fehler
Daghlian hatte bereits mehrere Wolframcarbid-Blöcke um den Plutoniumkern platziert. Als er versuchte, einen weiteren Block hinzuzufügen, machte er einen unglücklichen Fehler: Der Block glitt ihm aus der Hand und fiel direkt auf den Plutoniumkern.
Dieser zusätzliche Block reichte aus, um die Anordnung in einen überkritischen Zustand zu versetzen. Das bedeutete, dass die nukleare Kettenreaktion unkontrolliert ablief und eine intensive Strahlung freisetzte.
Die sofortige Reaktion und ihre Folgen
Daghlian erkannte sofort die Gefahr. Ohne zu zögern, handelte er instinktiv, um die Kettenreaktion zu stoppen. Er versuchte, den zusätzlichen Wolframcarbid-Block so schnell wie möglich vom Plutoniumkern zu entfernen. Dabei setzte er sich einer extrem hohen Dosis an ionisierender Strahlung aus.
Obwohl es ihm gelang, die Kettenreaktion zu unterbrechen, war der Schaden bereits angerichtet. Daghlian hatte eine letale Dosis an Strahlung abbekommen. Er zeigte bald die Symptome der akuten Strahlenkrankheit, die sich in den folgenden Wochen rapide verschlimmerten.
Ein stiller Zeuge
Zum Zeitpunkt des Unfalls befand sich auch Robert J. Hemmerly im Raum. Obwohl er weiter entfernt stand, wurde auch er einer signifikanten Strahlendosis ausgesetzt, überlebte aber.
Das tragische Ende und die Lehren
Harry Daghlian erlag seinen Verletzungen 25 Tage nach dem Unfall, am 15. September 1945. Er wurde nur 24 Jahre alt. Sein Tod war eine tragische Erinnerung an die unsichtbaren Gefahren, die mit der Arbeit an der Spitze der Kernforschung einhergehen.
Der Unfall von Harry Daghlian, zusammen mit einem ähnlichen Vorfall mit dem Physiker Louis Slotin im folgenden Jahr, führte zu einer Neubewertung der Sicherheitsprotokolle und Experimentierverfahren in den Laboren von Los Alamos. Man erkannte die Notwendigkeit strengerer Richtlinien und ferngesteuerter Geräte für Experimente, die sich der Kritikalität näherten, um das Risiko für die Wissenschaftler zu minimieren.
Aus heutiger Sicht wirkt das Handel von Harry Daghlian leichtsinning und gefährlich. Bei so einer Beurteilung muss man sich aber immer in die damalige Zeit zurückversetzen. Es war viel weniger über die Gefahren bekannt als heute. Außerdem standen die Wissenschaftler damals unter einem großen Erfolgsdruck.
Nach heutigen Maßstäben würder der Unfall auf der INES-Skala mit der Stufe 4 bewertet werden.
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